Es hat nicht lange gedauert, da waren die Tests als regelmässige Routine in meinen Alltag integriert. Nach einer Weile begann ich sogar Gefallen an dieser behördlich angeordneten Unterbrechung meines Tagesablaufs zu finden. Während ich in der Schlange stand, konnte ich ungestört die Leute beobachten, die in meiner Nachbarschaft wohnen und arbeiten, und die ich vorher nie in dieser Ballung zu sehen bekommen hatte. Weil ich sonst nichts zu tun hatte, studierte ich ihre Kleidung und ihre unterschiedlichen Wartehaltungen. Ich versuchte die Aufschriften auf den T-Shirts zu entziffern, und fragte mich, woran ich die Angestellten aus den benachbarten Büros von Arbeitern unterscheiden konnte. Bemerkenswert fand ich auch, mit welcher Selbstverständlichkeit selbst Kinder auf Inlinern, Skateboards oder mit Wasserpistolen ausgerüstet zu den Tests erschienen.In seiner 1960 erschienen „Theorie des Films“ formulierte Siegfried Kracauer angesichts der von Edward Streichen konzipierten New Yorker Ausstellung „The Family of Man“ eine ähnliche Hoffnung. Den ausgestellten Fotografien aus 68 Ländern sprach Kracauer die Fähigkeit zu, den Betrachter dazu zu bringen, die „Familienähnlichkeit“ aller Menschen zu erkennen. So würden die Fotos dafür sorgen, dass wir globaler zu sehen beginnen: „Sie machen“, so der Soziologe und Filmtheoretiker, „aus der Welt virtuell unser Zuhause.“
Ich denke, dieses Erkennen der Familienähnlichkeit und der globale Blick ist angesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen dem westlichen Block und China nötiger denn je. Alle Bewohner dieses Planeten sollten sich im Klaren darüber sein, dass wir inzwischen an einem Punkt angelangt sind, wo diese Konfrontation jeder Zeit in einen Krieg münden kann. Dann werden die Leute, die auf den Fotos hier in der Schlange stehen, zu Feinden deklariert werden. Auch deshalb sollte man alles tun, um diesen Krieg zu verhindern.
(Christian Y. Schmidt)
Christian Y. Schmidt, Corona Tests Beijing
mit Fotos von Christian Y. Schmidt und Gong Yingxin, einem Beiheft und einer Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk
Zweisprachige Ausgabe (deutsch-englisch)
Seiten: 112, Leinenbindung, Prägung, signiert und nummeriert
Vorzugsausgabe: 700 € (Expl. 1 bis 30)
Normalausgabe: 100 € (Expl. 1 bis 100)
mit Fotos von Christian Y. Schmidt und Gong Yingxin, einem Beiheft und einer Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk
Zweisprachige Ausgabe (deutsch-englisch)
Seiten: 112, Leinenbindung, Prägung, signiert und nummeriert
Vorzugsausgabe: 700 € (Expl. 1 bis 30)
Normalausgabe: 100 € (Expl. 1 bis 100)
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