Montag, 21. November 2022

Bibliophilie

© Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft
Beim Besuch der Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft in der ICZ-Bibliothek hielt der Bibliothekar Oded Fluss folgende interessante Einführung:

"Bibliophilie wird manchmal als eine Krankheit, eine Art Fetischismus beschrieben. Die bibliophile Person kann sich in ein Buch verlieben wie in einen Menschen. Wie bei der Liebe zu Menschen hat dies oft weniger mit dem Inhalt als mit den äusseren Merkmalen und der Schönheit zu tun. Wie bei der Liebe gibt es einen fast unkontrollierbaren Willen, das Objekt der Begierde zu besitzen. Im Gegensatz zur Liebe zu Menschen wird das Buch jedoch mit zunehmendem Alter immer attraktiver.
Die Bibliophilie in diesem Sinne hatte das jüdische Volk erst spät erreicht. Für die Juden der alten Zeit galt die Bewunderung von Objekten und der Wunsch, sie zu besitzen, noch als Sünde. Und doch in vielen alten Büchern in unserem Bestand finden wir am Anfang des Buches die Worte לאלוהים הארץ ומלואה… "Gott ist der einzige Eigentümer des Landes und seines Inhalts und obwohl unsere Väter verboten haben, in das heilige Buch zu schreiben, schreibe ich jetzt meinen Namen und erkläre, dass es mir gehört, falls jemand vom Markt kommt und sagt, dass dieses Buch ihm gehört."
Auch wenn es nicht im rein bibliophilen Sinne ist, waren das jüdische Volk und das Buch im Laufe der Geschichte immer eng miteinander verbunden. Der Begriff "das Volk des Buches" wurde erstmals im Koran mit einer negativen Konnotation verwendet. Er wurde sowohl auf die Juden als auch auf die Christen als Völker angewandt, die Bücher besitzen, die die Worte Gottes enthalten, die aber von diesen Menschen verfälscht werden. Bei den Juden hatte sich dieser Begriff festgesetzt und eine positive Konnotation erhalten. Damit gelten die Juden als ein Volk mit einer recht starken Bindung an das Buch. Man kann sogar sagen, dass das jüdische Volk in ein Buch eingebunden war. Heinrich Heine bezeichnete die Bibel als "portatives Vaterland der Juden". Das Volk, das überall gejagt und verfolgt wurde, hatte seine Heimat unter dem Arm mit sich getragen.
Die deutschen Juden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren bereits mit dem bibliophilen Virus angesteckt. Sie spielten eine dominierende Rolle in der Buchbranche; von der Produktion von Büchern als Schriftsteller und Verleger über den Verkauf als Buchhändler bis hin zum Kauf als Büchersammler. Diese deutschen Juden taten dies jedoch mehr als Deutsche denn als Juden. Das Buch, das immer ihre jüdische Identität definierte, wurde nun ironischerweise zum Mittel für ihre Assimilation.
Die Assimilierung der deutschen Juden ist tragischerweise gescheitert. Die Bücherverbrennung in Deutschland 1933 war das deutlichste Zeichen für das, was noch folgen sollte. "Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen." Dieses prophetische Zitat des getauften Juden Heine in seinem "Almansor" bezieht sich nicht auf jüdische Bücher. Es ist das Buch, das wir bereits als dasjenige erwähnt haben, das die Juden zuerst als "Volk des Buches" bezeichnete, der Koran, der in dieser Tragödie verbrannt wird.
Wenn Bibliophilie tatsächlich eine Krankheit ist, dann scheinen die meisten Menschen heute immun zu sein. Es gibt immer weniger Menschen, die sich für Bücher interessieren. Noch weniger schätzen das Buch als ein Objekt der Schönheit. Immer mehr glauben, dass ein Buch als blosses Objekt völlig überflüssig ist und dass das Lesen auf Bildschirmen und die Digitalisierung einen angemessenen Ersatz darstellen.
Wir in der größten jüdischen Bibliothek der Schweiz, die einzige jüdische Bibliothek im deutschsprachigen Raum, die während der Zeit des Holocausts ununterbrochen geöffnet bleiben konnte, wissen, wie wichtig ein physisches Buch ist. Wir wissen, dass ein Buch manchmal nicht nur ein Buch ist, sondern eine Zeitkapsel. Zwischen seinen Seiten birgt es Spuren von Menschen, Institutionen und manchmal ganzen Gemeinden, die sonst völlig in Vergessenheit geraten wären. Heute Abend werden wir versuchen, Ihnen ein paar Beispiele für solche Bücher zu geben.
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