Will man das Blatt restlos erklären, entzieht es sich diesen Bestrebungen – über die Schöpferin lassen sich aber durchaus einige klare Aussagen machen: In eine Künstlerfamilie hineingeboren, besuchte sie schon in jungen Jahren das Kunstkolleg in Minsk und von 2000 – 2006 die dortige Kunstakademie. Ab 2003 arbeitete sie schon als Illustratorin. Zwischen 2007 und 2019 hatte sie vier Stipendien des deutschen akademischen Austauschdienstes an der Kunstakademie Münster, wo sie die Möglichkeiten der dortigen Radierwerkstatt nutzte. Die gründliche Ausbildung spiegelt sich in ihrer brillanten Technik wider. Laut eigener Aussage schätzt sie gerade dieses handwerkliche Verfahren sehr, weil es ihr in allen Arbeitsgängen vom Ätzen bis zum Drucken individuelle Kontrolle ermöglicht. Neben der präzisen zeichnerischen Artikulation können sehr freie, ja experimentelle Ätzungen stehen, man sehe sich nur die geheimnisvoll aufschimmernden Strukturen im „Himmel“ über den Baumkronen im Hintergrund an. Unstrittig ist ihre wichtigste Inspirationsquelle die Landschaft ihres Heimatlandes: große Teile sind unberührte Natur, daneben stehen weitläufige Wiesen und Felder in flachen Ebenen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu erwähnen, dass die durchschnittliche Einwohnerdichte in Belarus 46 Einwohner pro qkm beträgt im Gegensatz zu 234 Einwohnern in Deutschland. Aus dieser Erdung heraus, im wahrsten Sinne des Wortes, entsteht unweigerlich die stille Intensität, die die meisten Arbeiten Piskuns kennzeichnet. Sie will mit ihnen ihre Eindrücke und Gefühle mitteilen – eine gute Radierung muss für sie Wärme ausstrahlen.
Dies führt uns zu unserem Blatt zurück. Die liebevolle Darstellung der Wiese im Vordergrund ist ein Plädoyer für Naturverbundenheit. Doch was macht der Mensch mit der Natur? Der Baumstamm ohne Äste und Zweige hat etwas von einem stummen Schrei. Die sich sanft in die Landschaft einschmiegenden bäuerlichen Bauten sprechen eine ganz andere Sprache, wie auch das sich leuchtend-trotzig abhebende Gewächs vor dem dunklen Baumstamm. Möge das Leben das letzte Wort haben! scheint es mir entgegenzurufen. Das Bild lebt von Kontrasten, vom Helldunkel, das Licht folgt hierbei den Gesetzen der eigenartigen Bildkomposition. Im oberen Bildteil wäre übrigens noch Platz für einen Eignernamen, was diese freie Grafik zu einem Exlibris machen würde.
(Andreas Raub, kompletter Beitrag hier)

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