[...] Es schien undenkbar, dass die Leipziger Buchmesse [von der Wende] Schaden nehmen könnte. 1825 hatte sich hier der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig gebildet, bis 1945 blieb dieser Spitzenplatz der Leipziger Buchmesse unbestritten. Doch nein, auch die Leipziger und ihre Messe mussten sich wie alles aus dem Osten ganz weit hinten anstellen. Die Messeleute in Frankfurt am Main dachten gar nicht daran, zurück nach Leipzig zu kommen. Die Verlage, die Druckereien, die Buchbindereien, der Vertrieb kamen alle erst ins Schleudern, sodann unter den Hammer und wurden schließlich dicht gemacht oder von der Treuhand verscherbelt. Trübe Jahre für das Leseland.
Erst in den Neunzigerjahren ging ich wieder zu einer Buchmesse, um die neue Messehalle zu besichtigen. Die Straßenbahn Linie 16 vom Hauptbahnhof nach Leipzig-Wiederitzsch war fast leer.[...]
„Alles schreibt, keiner liest“ ist die Standartklage der meisten Verleger. „Machen Sie doch weniger und interessantere Bücher“, sagte ich zu einem Großhandels-Vertriebsboss, der vor einer Wand voller neuer Ratgeber stand, und mir stolz die Neuerscheinung „Problemzonen am Po mit 40“ zeigte. „Wo denken Sie hin“, entgegnete er, „es gibt ein Dutzend Buchmessen in Deutschland, alle acht Wochen eine. Überregional wahrgenommen werden Frankfurt und Leipzig. Aber Frankfurt hat dreimal so viel Platz und wir machen dort deutlich mehr Gewinn. Trotzdem muss auf jeder Messe ganz viel Neues stehen. Denn was in drei Monaten nicht verkauft ist, wird vergessen und sofort überlagert von Neuerscheinungen. Dieses Jahr gewinnt der [Christian] Kracht oder irgendeine Autorin mit einem Frauenthema-Buch. Das muss dann sofort durch die Ladenketten wirbeln. Denn was in drei Monaten nicht verkauft ist, wird nie mehr verkauft und landet im modernen Antiquariat oder wird über Zweitverwerter verramscht.“ Es gewann in diesem Jahr Kristine Bilkau mit dem Roman „Halbinsel“.
Der SWR-Literaturkritiker Carsten Otte bescheinigte der Messe in seinem Bericht, unkritisch zu sein und „kontroverse Diskussionen über die Entwicklung der Branche zu scheuen, dabei wären Streitgespräche dringend nötig. Wer sich die Ergebnisse zur Bundestagswahl vor allem in Ostdeutschland anschaut, hatte beim Zuhören der so gut wie nie kontroversen Podiumsdiskussionen der Messe zuweilen das beklemmende Gefühl, in ein politisch korrektes und gleichermaßen dystopisches Computerspiel geraten zu sein, das gewinnt, wer die meisten Harmoniepunkte sammelt.“ [...]
Mittlerweile ist Leipzig wieder die unangefochtene Nummer 2 unter den Messen in der Verlagsbranche. Denn die pfiffigen Westsachsen kreierten vor einigen Jahren das Format „Leipzig liest“ und landeten damit einen Volltreffer. Die Messe wird seitdem umrahmt von immer mehr Autorenlesungen und vergleichbaren Veranstaltungen. [...] Die Messe gilt als gemütlich und kundennah, ist aber wie alle Messen laut und unübersichtlich. Die meisten Besucher sind junge Leute in Phantasiekostümen. Manche tragen japanische Schuluniformen oder haben sich in die Rüstung eines Roboters gewuchtet. [...] Romance oder Dark Romance, Romantasy oder New Adult heißen die Genres in einem inzwischen ausdifferenzierten Segment der Trivialliteratur. [...]
Darüber hinaus sind Frauen eindeutig in der Mehrheit. Zu den Akademikerinnen und Lektorinnen der Neunzigerjahre kommen Kundinnen und Autorinnen. Offenbar ist der Literaturbetrieb weitgehend von den schreibenden Frauen übernommen worden. Auch die Autorinnen der Vergangenheit werden immer wieder neu aufgelegt; die guten und zu Unrecht vergessenen und alle anderen auch. „Tja, die Messe wird weiblicher und jünger und die Themen der Bücher, die die Verlage drucken, passen sich dem an“, sagte der Vertriebsleiter eines namhaften Verlags. „Und was soll ich lesen oder mein Enkel, der Angst hat, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird oder er gar in einen Krieg ziehen muss?“, will ich wissen. Er weist mit großer Geste in die Hallen und fragt: „Sehen Sie junge lesenden Männer?“ Nein, ich sehe tatsächlich keine. „Die sind uns abhandengekommen ins Internet, in die sozialen Medien, zu Tiktok und den Computerspielen. Für die brauchen wir nichts mehr zu drucken. Die kaufen keine Bücher mehr“, konstatiert er und lässt mich stehen.
[...] Was für Zeiten!
(Walter Thomas Heyn, in Das Blättchen, 21. April 2025)
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