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Die Exlibris von Sidney Hunt begeistern mich immer wieder durch ihre exzellente Komposition, ihre Technik, ihre expressionistische Ausdruckskraft und ihre Eigenwilligkeit. Schwieriger war die Wahl des konkreten Buchzeichens, da einige der Exlibris von Sidney Hunt aufgrund ihres Balancierens zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit nicht leicht erschließbar sind. Gewählt habe ich schließlich ein Exlibris für A. Whiteflower, da dieses ein auf Exlibris nicht eben seltenes Motiv aufgreift, dessen Kenntnis den Zugang erleichtert. Leider konnte ich bis heute nicht herausfinden, wer A. Whiteflower, also der Eigner oder die Eignerin, war.
Man sieht auf dem Holzschnitt einen nackten jungen Mann, der sich über eine Wasserfläche beugt, aus der ihm sein Gesicht entgegenblickt: Narziss also, Sohn einer Nymphe und des Flussgottes Kephissos. Körper, Arme und Beine des jungen Mannes bilden ein klares Rechteck, dahinter und links davon sind Bäume zu erkennen. An einen Baum gelehnt erblickt man die klagende Nymphe Echo, die wie viele andere – Männer wie Frauen – in Narziss verliebt war, aber nicht von ihm erhört wurde. Ihre Liebe war buchstäblich unsterblich, denn sie klagte und weinte so lange, bis ihr Leib sich auflöste und nur noch der Schall ihrer Stimme zu vernehmen war.
Ein ebenfalls in Narziss verliebter und von diesem verschmähter Mann bat die Nemesis um Hilfe dabei, Narziss für das ihm zugefügte Liebesleid zu bestrafen. Diese belegte Narziss mit dem Fluch, sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben, was auch für Narziss zu unerfüllbaren Liebesgefühlen und Liebesleid führte, denn er konnte sich nicht mehr von seinem eigenen Bild im Wasser des Waldteichs trennen, so dass sein Tod unausweichlich war. Damit der schöne und von so vielen geliebte Jüngling nicht dem Vergessenwerden anheimfiel, verwandelte ihn die Göttin nach seinem Tod in eine Blume, bekanntermaßen eine Narzisse.
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Das alles gestaltet Hunt mit wenigen, kraftvollen Schnitten und mit expressiver Stärke. Das Licht fällt auf die Vorderseiten der beiden Körper, die Gesichter bleiben dunkel. Doch aus dem Waldteich leuchtet Narziss sein helles Gesicht entgegen, über das er sein dunkles hält und nach dem er mit seinen weißen, sich also im Licht befindenden Fingern greifen will. Fast wirkt es so, als wolle er sich sein Spiegelbildgesicht holen, da sein eigenes so dunkel und wie erstorben im Finstern liegt, als könnte erst das geliebte Gesicht im Wasser ihn wieder zum Leben erwecken.
Die Szene wirkt rätselhaft und berührt auf eigentümliche Weise.
Man sieht bereits auf diesem frühen Exlibris Hunts, wie herausragend er Körper, vor allem männliche – es gibt auch viele homoerotische Zeichnungen des Künstlers – so darstellt, dass sie zwar fast abstrakt gestaltet sind, oft auch mit kubistischen Stilelementen, dennoch aber konkrete Züge gewinnen, was Hunt gelingt, indem er nicht die gegenständlichen Merkmale darstellt, sondern die erotische Wirkung, die er in diesen Körpern wahrnimmt, zum Ausdruck bringt.
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Das Exlibris war für Sidney Hunt übrigens keine grafische Nebensache wie für andere große Künstler; neben dem oben angesprochenen Magazin „RAY“ gab er auch ein kleines (im Web nicht erwähntes) Journal mit dem Titel „The Bookplate“ heraus, in dem er zeitgenössische Exlibris vorstellt und kommentiert und auch Beispiele seiner eigenen Kunst präsentiert, ein Exemplar dieses Journals liegt mir vor. In dem oben angeführten Aufsatz führt Edmond Paul viele Zitate an, in denen Sidney Hunt seine künstlerischen Intentionen verdeutlicht. Sie kreisen meist um die Maxime des neuen, modernen Stils, wie z. B. das folgende: „Qu’est-ce que je vaux si je ne peux pas créer quelque chose de nouveau?“ (Was bin ich wert, wenn ich nichts Neues schaffen kann?)
(Ulrike Ladnar, gesamter Artikel hier)
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