Mittwoch, 2. August 2023

Oleg Dergachov: Exlibris für Birgit Göbel

... Man sieht zentral zwei lange, parallel angeordnete, wuchtig runde, nicht näher definierbare Objekte: vielleicht Fundstücke, die man aus der Erde ausgegraben hat, vielleicht Wrackteile aus dem Meer oder dort nach einem Krieg hinterlassene panzerbrechende Betonpoller oder Sonstiges, vielleicht vom Himmel gefallene oder fallende Meteoriten oder, was angesichts der meist glatten Oberfläche wahrscheinlicher ist, unbekannte anthropogene Objekte. Zwischen ihnen halten sich nackte oder halbbekleidete Menschen mit einem Vogelkopf auf, Männer und Frauen, die die schwere Last über ihren Köpfen tragen. Möglicherweise sind es aber auch keine Menschen mit einem großen Schnabel im Gesicht, sondern Vögel mit einem Menschenkörper. Wer kann das schon ausmachen? Unwillkürlich fallen einem zunächst die ca. 15.000 Jahre alten Höhlenmalereien bei Lascaux mit ihren berühmten Vogelmenschen ein, dann aber sofort auch Max Ernsts Mischwesen zwischen Mensch und Tier, von denen sein Vogelmensch, der Loplop heißt, der bekannteste ist und durch seltsame Handlungen auffällt. Vogelmenschen tauchen in der gesamten Kulturgeschichte immer wieder auf, in Gestalt der altägyptischen Götter Horus und Ra, aber auch in einem Traum, auf den Sigmund Freud in seiner Traumdeutung eingeht, um nur zwei weitere bekannte Darstellungen zu nennen. Diese Wesen werden durchgängig als geheimnisvoll und unheimlich wahrgenommen, was wahrscheinlich der fehlenden Mimik von Vogelgesichtern zuzuschreiben ist. Nicht in jeder Epoche und Kultur wird ein Vogelmensch als Mischwesen gesehen, oft gilt er als eine dritte Art Lebewesen.
Oleg Dergachov: Exlibris für Birgit Göbel, 2000
Dergachovs Geschöpfe scheinen sich vorwärts zu bewegen, man versteht aber nicht, wohin sie das riesige Objekt tragen wollen und warum sie es tun. Denn wenn sie sich noch eine Weile weiter bewegen, würden sie vermutlich abstürzen. Irritierend ist auch, dass das untere Objekt viele florale Elemente aufweist, Blätter und Stiele. Vielleicht wachsen sie aus dem Objekt heraus, vielleicht aber auch aus seltsamen Gefäßen wie den Ringen. Auf einem die-ser Ringe, dem größeren, sitzt ein kleiner Vogel und betrachtet die Szenerie so verwundert wie ich. Und dennoch: Von der Szene geht etwas Bedrohliches aus, ein Gefühl, das sich noch verstärkt, wenn ein drittes Objekt in den Blick gerät, das ohne Halt über den beiden anderen schwebt, den unteren Rand eines dritten sieht, das nicht getragen wird, sondern als ob esjederzeit auf die anderen herunterfallen und schweren Schaden anrichten könnte. Bedroh-lich ist auch ein großes spitzes Objekt daneben, das nach unten gerichtet ist, ein riesiger Vogelschnabel vielleicht oder aber Teil eines Wracks oder eine gefährliche Waffe. Vielleicht stürzt auch ein Meteorit herab. ... (komplette Beschreibung hier)

(Ulrike Ladnar)

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