Samstag, 15. Februar 2014

Die kluge Frau um 1912

Immer wieder finden sich bei bibliographischen Recherchen in alten Zeitungen wichtige Texte, die selbst den Spezialisten unbekannt sind. Der jüngste Fund betrifft Paul Scheerbart, zu dem es eine Personalbibliographie gibt, deren Verfasser Uli Kohnle zwar Vollständigkeit der Nachweise anstrebt, der aber zugeben muss, dass absolute Lückenlosigkeit nie zu erreichen sein wird. Der neu aufgefundene Text gehört zu einer Zusammenstellung von Antworten auf die Frage „Soll sie klug sein?“, die im Dezember 1912 vom Berliner Tageblatt berühmten Zeitgenossen vorgelegt wurde. Selten hat das männliche Überlegenheitsgefühl seine Vorurteile so offen zur Schau gestellt wie in dieser Textsammlung, die dem Studium der Gender-Forscher und -Forscherinnen sehr empfohlen werden kann. Paul Scheerbart vermeidet die hier vorherrschende ungewollte Selbstentblößung, indem er den männlichen Überlegenheitswahn zum Zentrum seiner „um die Ecke gedachten“ Argumentation macht. Ein verschmitztes Stück Scheerbartscher Gesellschafts-Verulkung.
(Ulrich Goerdten)
 
„Muss sie klug sein?“
 
Die Beantwortung dieser Frage ist gleichbedeutend mit einer Lösung des ganzen Eheproblems. Hier meine Antwort: Sie muß klug scheinen, darf aber niemals klug sein. Das sieht verblüffend einfach aus, ist es aber nicht – sonst hätten wir ja kein „Eheproblem“. Die Sache liegt doch so: „Er“ will immer in irgendeiner Beziehung sehr groß dastehen; ist Er ein guter Familienvater, so will Er der beste aller Familienväter sein – und die Frau bracht nur so klug zu sein, daß Sie Ihm das so sagt, daß Er’s glaubt. Das geht nun so durch alle Berufsarten: legt jemand Wert aus seinen Geheimratstitel, so will Er auch „Wirklicher“ und schließlich auch „Ober“ sein – Aufgabe der Frau auch hier: das so zu sagen, daß Er’s glaubt – was der Staat sagt, ist gleichgültig; die Frau muß sich eine Stellung schaffen, die den Staat überragt. Noch eine dritte Illustration: Mancher Er will als heimliches Genie gefeiert sein. Da muß die Frau sehr vorsichtig vorgehen und nur so alles Schmeichelhafte sagen, daß Er das auch für bare Münze nimmt; sehr viele Er’s vertragen die Ovation nur dann, wenn sie in ironisch-höhnische Futterale gesteckt ist . . .
Das Schwierigste bei der Sache ist dieses: Sie muß wahrhaftig eine ganze Fülle von Klugheit besitzen, um Ihm geschickt was vormachen zu können . . . aber – wehe, wenn Ihr einfällt, eine „wirklich“ kluge Frau zu werden!! Dann würde sie ja unter Umständen geneigt sein, „kritisch“ gegen Ihn vorzugehen. Na – und da kann ich nur aus langjähriger Erfahrung sagen: die Kritik löst die besten Ehen auf.
Also – wie gesagt: Sie muß klug scheinen, darf aber niemals klug sein. Wer mit dieser Formel nichts anzufangen weiß, der suche sich eine andere; nur vergesse Er und Sie nie, daß die Eitelkeit eine ganz unheimliche Größe ist . . .
Paul Scheerbart. (Berliner Tageblatt, 25. Dezember 1912, Morgenausgabe, 4. Beiblatt, Seite 2.)

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