Sonntag, 26. September 2010

Xylothek

Marion Gülzow

„Bibliotheken sind die Musentempel…, in denen der unsterbliche  Nachlass der edelsten Seelen… beysammen ruht, die angenehmsten Lustgärten, in welchen auf jeden Schritt neue Blumen emporsprossen, und Vergnügen um sich duften…“ (Michael Denis, 1777)
A
ngeregt durch die Xylothek Schildbachs und fünfzig leere Zigarrenkisten aus einer Umzugshinterlassenschaft schuf die Hannoveraner Künstlerin Marion Gülzow eine bisher ca 300-bändige Künstlerbibliothek in Zigarrenkistenformaten, die als Installation ausgestellt wird.

Carl Schildbach (1730-1817) fertigte zwischen 1771 und 1799 mit seiner Sammlung von Hölzern und Pflanzenteilen den Prototyp einer so genannten Xylothek (altgriechisch für einen Aufbewahrungsort für Holz). Seine Holzbibliothek umfasst 530 einzelne „Bücher“, die heute im Naturkundemuseum des Ottoneums in Kassel aufbewahrt werden. Schildbach ordnete sämtliche Holzgewächse Hessens enzyklopädisch und bereitete sie für eine anschauliche Betrachtung auf.
Die einzelnen Exemplare dieser Scheinbibliothekoder Xylothek "benehmen" sich wie richtige Bücher: Sie haben einen Rücken und einen Deckel, worauf sie manchmal sogar einen Titel tragen. Und klappt man sie auf, entdeckt man innen eine Geschichte. Die bearbeiteten Zigarrenkisten bewahren und präsentieren gleichermaßen: Schätze und Früchte künstlerischer Auseinandersetzung mit Alltagsmaterialien aller Art. Bürolandschaften und „Querschiffe“ - am Horizont neuer Aufenthaltsmöglichkeiten - ankern jenseits von Steuermarken und Todeswarnungen. Mit ca. 300 bis 500 Exemplaren wird die Bibliothek komplett sein.
Marion Gülzow sieht ihre Künstlerbibliothek allerdings nicht der Bibliothek eines leidenschaftlichen Buchbinders verpflichtet, wie sie von Wolfgang Hildesheimer in seinem Roman „Masante“ beschrieben wird: „Sie war voller Schätze, Bücher aus herrlichen handgeschöpften Papieren, Pergamente wie geschaffen für Apokryphes oder Palimpseste, zartfarbene Vorsatzpapiere in alten Mustern, Bücher seltsamer Formen, oval und sechseckig, Arbeiten eines Lebens, und die Seiten alle leer. In seiner gesamten Bibliothek stand nicht ein einziges Wort.“
Vielmehr knüpft sie mit ihrer Arbeit an die Kuriositätenkabinette des Barock an. Denn diese intendieren eine enzyklopädische Darstellung der Welt, die uns heute wunderbar und unverständlich zugleich erscheint. Marion Gülzows Künstlerbibliothek lädt den Betrachter ein, sich in ihr anschauliches Bücheruniversum zu vertiefen.

Ausstellung im Historischen Waisenhaus
1. Oktober 2010 bis 16. Januar 2011

Kunst- und Naturalienkamer
è Franckeschen Stiftungen zu Halle

siehe auch è Das Projekt Xylothek
siehe auch è Von den Holzbibliotheken

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