Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe Foto © Uwe Frauendorf |
Im Alter von 86 Jahren starb am
5. Juli in Wolfenbüttel der wohl bekannteste Bibliothekar Deutschlands. Jahrzehntelang hat er in führenden Positionen seinem Berufsstand alle Ehre gemacht und
dabei verstanden, Impulse mitten in die Gesellschaft hineinzugeben. Als Sohn
eines Holzbildhauers am 21. Februar 1927 in Oldenburg geboren, absolvierte er
die Ausbildung zum Diplom-Bibliothekar an der Landesbibliothek seiner Heimatstadt,
um anschließend in Hamburg Germanistik und Geschichte zu studieren. In Marbach
übernahm er 1958 die Leitung der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs und
trat in dieser Zeit mit ersten, deutschlandweit wahrgenommenen Ausstellungen an
die Öffentlichkeit, am bekanntesten war die über den literarischen Expressionismus,
mit einem bis heute viel zitierten Katalog (Expressionismus, 1960). Zwei
damals begonnene umfangreiche Bibliographien, Die Zeitschriften und
Sammlungen des literarischen Expressionismus (1964) und Die Autoren und
Bücher des literarischen Expressionismus (1985), zeugen von Raabes großem
Sammlerfleiß und von seiner Fähigkeit, Großprojekte durchzustehen. 1968 ging er
als Direktor an die Herzog August Bibliothek nach Wolfenbüttel, die sich unter
seiner Leitung zu einer europäischen Studien- und Forschungsstätte für das Mittelalter
und die frühe Neuzeit entwickelte. Innerhalb der dezentralen deutschen Nationalbibliothek
übernahm Wolfenbüttel die Sammlung von deutschen Drucken des 17. Jahrhunderts.
Zahlreiche Bauvorhaben wurden von ihm verwirklicht, ein viel genutztes
Stipendienprogramm ins Leben gerufen. Ausstellungen und wissenschaftliche
Tagungen fanden statt, Publikationen entstanden in nicht abreißender Folge.
Als Raabe sein Ruhestandsalter erreichte,
kamen mit der deutschen Einheit neue große Aufgaben auf ihn zu, die seine
früheren Leistungen noch übertrafen. In Halle (Saale) ließ er sich von 1992 bis
2000 als Gründungsdirektor der neubelebten Franckeschen Stiftungen in die
Pflicht nehmen. Der gesamte Gebäudekomplex mußte saniert werden, alle
Einrichtungen des Hauses waren neu zu konstituieren, die berühmte
Barockbibliothek war wieder aufzubauen. Im Rahmen des Jahrestreffens 2011 in
Halle konnten die Pirckheimer die gelungene Sanierung bestaunen. Selbst mit dem
hallischen Engagement endete seine berufliche Tätigkeit nicht, ein letztes
großes Projekt war die von ihm initiierte Bestandsaufnahme national bedeutsamer
Kultureinrichtungen in den neuen Bundesländern. Diese in dem „Blaubuch“ der Bundesregierung
Kulturelle Leuchttürme (2001; 3. Aufl. 2006) erfaßten kulturellen Institutionen
erhalten seither eine besondere Förderung durch Bund und Länder.
Raabes Stimme wurde auch in vielen anderen
Gremien und Kuratorien gehört, in denen er Mitglied war, so im Stiftungsrat der
Klassik Stiftung Weimar und in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften, wo er Berater und Förderer von solchen buchkundlichen
Großprojekten wie der Fortsetzung des Literaturlexikons „Goedeke“ war. Raabes
Einsatz wurde weithin anerkannt, beruhte er doch neben der unbestrittenen Kompetenz
unverkennbar auf Uneigennützigkeit; in Halle soll er ohne Gehalt gearbeitet
haben. Würdigungen, Preise und Ehrentitel gingen seit den achtziger Jahren in
dichter Folge auf ihn nieder, am bedeutsamsten sind darunter wohl die
Ehrenbürgertitel von Wolfenbüttel und Halle.
Trotz der Belastungen durch diese vielen
Manageraufgaben wußte Raabe sich immer Freiraum zu halten für eine rege eigene
Publikationstätigkeit. Alle Themen, die er anfaßte, behandelte er gründlich,
auf Quellenstudium basierend. Ein viel benutztes, häufig nachaufgelegtes Buch
von Raabe war bezeichnenderweise die Einführung in die Bücherkunde zur deutschen
Literaturwissenschaft (1961),
in der er das Handwerkszeug für die literaturwissenschaftliche Forschung didaktisch
ausbreitete. Hervorgehoben aus der Fülle seiner Arbeiten seien die schon
während des Studiums entstandene Monographie Alfred Kubin. Leben, Werk,
Wirkung (1957), das Bekenntnisbuch Die Bibliothek als humane Anstalt
betrachtet. Plädoyer für die Zukunft der Buchkultur (1986) und die
Erinnerungsbände Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland. Jahre in
Wolfenbüttel (1992), In Franckes
Fußstapfen. Aufbaujahre in Halle an der Saale (2002), Mein expressionistisches
Jahrzehnt (2004) und Frühe Bücherjahre (2007).
(Carsten Wurm)
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