Harald Kretzschmar war bekannt als Karikaturist, Porträtist, Autor, Herausgeber, Feuilletonist, Bibliophiler. 1931 zwar in Berlin zur Welt gekommen, wuchs er als Spross einer ursächsischen Großbürgerfamilie in Dresden auf – unter seinen Vorfahren reputierliche Repräsentanten der königlich sächsischen Residenzstadt in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft.
Das Ende seiner Kindheit war gleichzeitig das apokalyptische Ende des Nazi-Reiches mit der Vernichtung des alten Dresdens im Feuersturm. Mitten in den Hunger- und Trümmerjahren aber, die darauf folgten (und von denen wir Nachgeborene nur mehr eine blasse Vorstellung haben) absolvierte dieser lang aufgeschossene junge Mann die ehrwürdige Dresdner Kreuzschule und anschließend die nicht minder traditionsreiche Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst.
Sein sparsam-präziser, unverwechselbarer Zeichenstil korrespondierte mit der verschwenderischen Breite und Vielfalt seiner Interessen und Kenntnisse. So war der antifaschistisch-demokratische, später sozialistische Neuanfang im Osten Deutschlands eben nicht nur vom sowjetischen Sieger und seiner stalinistischen Bürokratie oktroyiert, sondern von den überlebenden deutschen Linken vieler Couleur auch gewollt. Der junge Kretzschmar bekannte sich dazu, nicht zuletzt aus der Tiefe einer humanistischen Bildungstradition heraus. Davon zeugte eine ganze Wandelhalle bedeutender Re-Emigranten, die bewusst in den kleineren deutschen Teilstaat gingen (und allesamt früher oder später von Kretzschmar face to face porträtiert wurden).
Kunst und Politik – ein weites Feld. Karikatur in einer Diktatur – ein immer währender Drahtseilakt, auch wenn es nach Stalin wenigstens nicht mehr gleich den Kopf kostete. Obwohl kalter Krieg war (der übrigens immer von zwei Seiten geführt wurde, was heute gern vergessen wird). Es fand ein ungleich mühsamerer deutscher Wiederaufbau im armen Osten statt und es gab dennoch dort zugleich eine reiche Kulturlandschaft (was heute nicht minder gern vergessen wird). Mitten drin Kretzschmar, der das alles als Zeichner und Publizist, Autor und Lobbyist der politischen Zeichnerei begleitete. Um nach dem Mauerfall dann weiter unermüdlich noch mehr als ein Vierteljahrhundert lang seinem Metier und seinem kritischen Blick treu zu bleiben.
Nach dem Studium in Leipzig, wo ihm eine solide akademische Kunstausbildung nebst graphischen Techniken vermittelt wurden, verschlug es ihn ins Märkisch-Preußische: Seit 1956 war er in Kleinmachnow am südwestlichen Berliner Stadtrand ansässig, als „Speckgürtelgemeinde“ mit einst reichem Baumbestand ideal zum konzentrierten Arbeiten im Grünen und sowohl nach dem Bau als erst recht dann nach dem Fall der Mauer heiß begehrter Siedlungsgrund.
Hier darf ich den großen Maler Adolf Menzel zitieren, der bekannte: „Alles ZEICHNEN ist nützlich, und ALLES zeichnen auch.“ – Neben den Porträtköpfen, die den Kern von Kretzschmars Œuvre ausmachen, gibt es tausende Blätter politischer Karikatur (heute im Neusprech editorial cartoon genannt); sodann unzählige Reiseskizzen, auch malerische Versuche, Druckgrafik, Ausflüge in Relief und Plastik, Auftrags- und Gelegenheitsarbeiten, die zusammen einen veritablen Zeichnerkosmos und nebenbei die Spiegelung einer ganzen Epoche in einer geteilten Welt ausmachen. Sozusagen aus der geheimen Schublade kamen dazu Antlitze einiger verblichener Politbüro-Genossen, die man vielleicht vergessen möchte, die aber immerhin Figuren der Zeitgeschichte sind, und die man (ganz im Gegensatz zu ihren viel-, aber manchmal auch nicht so gut gezeichneten Pendants aus dem Deutschen Bundestag) derart kenntlich gemacht noch nicht gesehen hatte. Die Sicherheit des eigenen Strichs und die Souveränität des freundlich-präzisen Zugriffs auf das ganz und gar Unverwechselbare einer jeden Physiognomie machen überdies Kretzschmars Nähe zu den Kollegen verschiedener Zeitalter erst möglich und glaubhaft: Seien es die immer unsichtbar anwesenden frühen Großmeister des beginnenden Bürger- und Pressezeitalters namens Hogarth, Daumier, Hosemann oder die Kollegen vom Simplizissimus, – oder aber die künstlerischen Zeitgenossen-Freunde aus Ost und West, denen Kollege Kretzschmar ein exemplarisches neues Gesicht gab, weil ihm die jeweilige Nase einfach passt: Marie Marks und Tomi Ungerer, Arno Mohr und Henry Büttner, e.o. Plauen und Charlie Sturzkopf, Roland Topor und Ronald Searle, Friedrich Karl Waechter und Janosch undsoweiterundsoweiter.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sowohl der kritische Zeichner als auch sein Publikum können aus ihr lernen, schärfer zu sehen. „Ich habe eine Zukunft erlebt, die von gestern war“ sagt Volker Braun, und Stephan Hermlin bemerkte 1989: „Ich nehme zur Kenntnis, einer Generation anzugehören, deren Hoffnungen gescheitert sind. Aber damit haben sich diese Hoffnungen nicht erledigt.“
Nach 1990 verstummte Kretzschmar nicht, sondern stürzte sich im Gegenteil mit erstaunlicher Energie in die schmerzhafte gesellschaftliche Transformation des deutschen Ostens. Publizierend, zeichnend, ausstellend, lesend kämpfte er um sein Publikum und darum, sich selbst treu zu bleiben. In unterhaltsamen Erinnerungsbüchern hat er seine profunde Kenntnis von Lebensgeschichten der DDR-Intelligentsia aufbewahrt und damit an einer kritischen Zeit- und Kulturgeschichte des Ostens mitgeschrieben, die von echter Kenntnis zeugt. „Satire darf alles“, bemerkte Tucholsky vollkommen richtig, aber damit sie alles dürfen darf, sollte sie ihrerseits auch alles geben: Inhaltlich wie zeichnerisch, und nicht zum Beispiel nur mehr schlecht als recht als Lifestyle-Späßchen daherkommen oder kalauernde Sprechblasen illustrieren. Liberalität und Meinungsfreiheit sind das tägliche Brot der Satire, gesellschaftliche Um-und Aufbrüche sind eine Hoch- und Festzeit für sie. Aber sie lebt bekanntlich selbst unter den verschiedenen Formen von Repression, Zensur und Gängelung weiter, ja sie kann dort manchmal subtilere und überraschende Dimensionen entfalten, was im besten Fall vielleicht sogar künftige neue Auf- und Umbruchphasen vorbereiten hilft.
So bild-mächtig und machtlos zugleich ist, was die zeichnenden Arbeiter in den Steinbrüchen der Zeitgeschichte vermögen; jene, die leichthändig und in veritablem Größenwahn mit Wort, Witz, Federn und Stiften dem nackten Felsgebirge scheinbar alternativloser Zustände zu Leibe rücken.
Am 27. Juni 2024 ist Harald Kretzschmar in seinem Haus in Kleinmachnow verstorben.
(Rainer Ehrt, in Das Blättchen, 27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024)