Weihnachtspredigt zum Thema Buch und Bibliothek
Frakturschriftlesen
gehört heute nicht mehr zu den selbstverständlichen Fertigkeiten der Menschen.
Wer es entgegen den allgemeinen Trends doch noch kann und zum Vergnügen oder
aus wissenschaftlichem Interesse in alten Büchern stöbert, wird abenteuerliche
Entdeckungen machen. Man muss die oftmals dickleibigen alten Schwarten heute
nicht mehr in den Lesesälen entlegener Bibliotheken studieren, es genügen ein
Internetanschluss daheim und ein wenig Erfahrung im Umgang mit digitalen
Sammlungen (z. B.), dem Karlsruher Virtuellen Katalog und seiner Unterabteilung „Digitale Medien“. Sind diese Basisbedingungen
erfüllt, öffnen sich ehemals wohlgehütete Schatzkammern fast wie von selbst.
Beim
Stöbern in diesen Schätzen konnte allerdings die Weihnachtspredigt, die ich
einmal in der gedrucken Ausgabe eines alten Buches von 1695, der „Postilla“ von
Johannes Riemer, in der Universitätsbibliothek der FU gesehen hatte (Signatur
38/76/86981), nicht wiedergefunden werden. Sie scheint in den digitalisierten
Ausgaben von 1684 (Dresden) und 1700 (Göttingen) nicht enthalten zu sein. Diese
Predigt ist deswegen für Bibliophile von besonderem Interesse, weil in ihr das
Buch den metaphorischen Bezugsrahmen für die Verkündigung des Evangeliums liefern
muss. Ihr Verfasser ist Johannes Riemer (1648-1714), bekannt als Autor umfangreicher
Romane, Dramen und Abhandlungen zur Rhetorik. Er hat 1684 auch diese Sammlung
von Predigten auf alle Sonn- und Feiertage des Jahres herausgegeben, deren Text
allerdings nicht in den von Helmut Krause herausgegebenen Band 4 der
Werkausgabe Riemers (Berlin, de Gruyter 1987) aufgenommen wurde. Hier stehen
nur die Abschlussgedichte der Predigten.
Schon
der pompöse Titel dieser Predigtsammlung ist bemerkenswert, weil er trotz allen
Wortaufwandes doch eher dazu geeignet erscheint, von der Lektüre abzuschrecken:
„Blaße Furcht und Grünende Hoffnung. Bey Schlafflosen
Nächten / Der bedrängten Christen Zwischen Himmel und Hölle. Allen Blöden
Gewissen und frechen Sündern Der ungezäumeten Welt Aus dem Trost= und
Gerichts=Buche Jesu Christi / vorgerücket von Johann Riemern / Professorn zu Weissenfels.
Merseburg / In Verlegung Christian Forbergers / Buch=Händlers / J.J. 1684.
Weissenfels / druckts Joh. Brühl / F. S. H. u. A. Buchdr.“
Dieses
so dräuend sich ankündigende Buch sollte wohl nicht nur als Postille zur
Erbauung dienen, es war vermutlich auch ein Lehrbuch, das Riemer für seinen
Rhetorikunterricht benutzt hat. Es ist bis 1715 noch dreimal nachgedruckt
worden und heute in etwa zehn deutschen Bibliotheken vorhanden. Die Ausgabe von
1684 kann im Internet gelesen werden, die Ausgabe von 1700 hier.
Im
Vorwort schreibt Riemer:
So lange ich in der Oratoria mit jungen Leuten zu thun
gehabt / ist diß allezeit mein Vorsatz gewesen / denen kurtzen wenigen Regulen
/ so ich ihnen zum Fundament der Kunst vorgeschrieben / solche Exempel in praxi
zu unterziehen / daß ich iederzeit diese Stunde ein geistliches / folgenden Tag
/ ein Politisches Thema zur Ubung meinen Zuhörern / vorgegeben / und ihre
Elaboration hernach von Stunden zu Stunden mit der Meinigen verbessert. Nachdem
ich mich nun dazu meine schuldige Andacht aus denen Evanglischen Sonntags-Texte
/ nicht wenig anleiten lassen / auch meine Zuhörer nur fort für fort angelegen
/ ich möchte ihnen doch einen gewissen Indicem ordnen / und den Weg weisen /
wie sie zu Oratorischem Behuff / einem Vorrath von guten und zierlichen Realien
erlangen könnten/ als fiel mir bey / die gefälligen / so genandten
Sonntags-Evangelia / als gewisse Classen der Oratorischen Realien zu vertheilen
/ und diese / so viel mir möglich gewesen / reichlich / als gleichsam in einem
Lexico vorzustellen . . .
Was
nun besagte Weihnachtspredigt betrifft, so lautet deren Überschrift: „Christus
das Buch des Lebens : Die Welt eine ärgerliche Bibliotheck“. Zugrundegelgt ist
der Anfang des Johannesevangeliums („Am Anfang war das Wort . . . „)
Der
Text hebt an mit kritischen Hieben gegen den seinerzeitigen Buchhandel und die
Buchkultur überhaupt:
„Welche Messe wird wol in der Welt gehalten / da nicht
mehr Bücher ans Licht kommen / als in etzlichen Jahren können gelesen werden.
Die Erbauung wird in öffentlichen Schrifften nicht mehr gesuchet. Gottes Ehre /
welche sonst der Zweck aller Dinge ist / setzen die meisten Scribenten auß
denen Augen. Lob und Vorzug der Person / die da schreibet / will wol der
Schrifften erste Ursache seyn. […] Der will der Gröste seyn / welcher das
meiste zu lesen herfür giebet. […] . . .heut zu Tage läst der Verfasser einer
Schrifft / seinen Eigen=Ruhm die erste Sorge seyn.“
Riemer
meint hingegen den ganzen Bücherkram entbehren zu können, da Gott uns in der
Heiligen Schrift „eine grosse und weitläuffigte Bibliothec“ hinterlassen habe.
Hinzu komme die weise Maßnahme des Allerhöchsten, dass er die „Drückerey=Kunst“
habe erfinden lassen, um sein Wort unters Volk zu bringen, denn „Nunmehr kann
der arme Mann / die gantze Heil. Schrifft vor achtzehn Groschen kauffen“. Den
Sammlern kostbarer Bücher wird vorgehalten, dass sie ihre Schätze nur zum Prunk
dastehen haben, aber kaum darin lesen. Dagegen lobt er „ein besudelt Buch /
welches vom öfftern Gebrauch in der Hand eines andächtigen Haußvaters / gantz
beschmützet und weggegriffen ist.“ Dem Rechtschaffenen reichen Bibel,
Katechismus, Gesangbuch und die Postille. Hat er diese Schätze daheim auf dem
Bord stehen, ist er mit allem Nötigen reichlich versehen.
Aber
auch die „Bibliothec“ der „Kinder GOttes“ enthält noch andere nützliche Sachen,
die alle zum Ruhme des Allmächtigen dienen:
„Sie haben noch andere Haupt=Bücher. Die sind
übertrefflich kostbar. Bücher müssen in ihren Schrancken feine Ordnung haben.
Die Geistlichen haben ihren eigenen Platz. Die Weltlichen / und Gesetz=Bücher ihre
gewisse Reye. Die Artzney= und Kräuter=Bücher stehen auch in ihrer Besonderung.
Eben diese Ordnung behält JEsus das Buch des Lebens. Die gantze Schrifft ist
seine Bibliothec.“ (S. 97)
Nun
fährt der Prediger fort, die Vorzüge der Heiligen Schrift zu preisen und
beklagt nur, dass das Buch nicht fleißig genug gelesen wird. Schon dass es
nicht neu gekauft worden, sondern „durch Erbschafft mit unter den Hauß-Rath
kommen“, scheint ein Makel zu sein. Schlimmer und tadelnwerter ergeht es dem
kostbaren Buche hier:
„Aber da liegt dennoch das liebe Buch voll Staub und
ohne Gebrauch. Zwar den Worten nach gebraucht sich desssen der Hauß=Herr sehr
fleißig : indem er Tag und Nacht darüber lieget : aber nicht zu studiren / und
darinnen zu lesen : sondern darauff zu schlaffen. So lange er nemlich das
hochtheure Buch auff der Banck / als ein Hauptküssen unter dem Kopffe hat.“ (S.
100)
Nun
scheint der Prediger sich recht in Zorn geredet zu haben, denn er zieht jetzt
gegen die verderbliche und verdammenwürige weltliche Lektüre zu Felde:
„Dagegen von schändlichen Dingen / finden sich wol
zweyhundert und vier Bücher / von fünff Männern geschrieben / daß ich mit Esra
so rede 1. B. IV, da sehe ich junge Leute über den Amadis sitzen / und sich
blöde darinnen lesen. Ein Buch welches lauter Liebes=Narren=Possen voll / viel
tausendmahl in die Welt gedrucket worden. Das menschliche Hertz ist sonst nicht
böse von Jugend auff. Hat doch das Fleisch nicht von Natur seine sündlichen
bösen Reizungen : Man möchte dieselben auch noch auß Büchern anzünden und rege
machen. Haben einige an Liebs=Händeln keine Lust zu lesen : so treibt sie ihr
sündlicher Wollgefallen zu Sau=Possen. Uber Zoten und unflätigen Worten können
sie halbe Tage sitzen : und dergleichen Bücher mit beständiger Lust wol zum
drittenmahl durchlesen. Hercules und Herculiscus / zwey Spannen=dicke Bücher /
haben bey manchen Weibsbilde viel Liecht weggefressen / und der Jugend den
Kopff zerbrochen. Ja / welches fast lächerlich zu sagen : Man siehet feine alte
Matronen die Buhlen=Bücher durch die brillen lesen. O! ein Betbuch davor in die
Hand . . .“ (S. 100)
Aber
das ist noch nicht der Gipfel der Ereiferungen gegen die schlechten Bücher. Der
Höhepunkt folgt gegen Ende der Predigt in einer furiosen Verfluchung und
Verdammung:
„Das alles sind schlimme Bücher. Die Hölle hat diese
Bücher erdacht. Die wird auch ihren Schülern den Verlag dafür bezahlen. Mit
Feuer und Kohlen / die nimmermehr verleschen. Die Asche von solchen Büchern
wäre besser / als die gesunden Blätter. Denn darinnen sehen sie doch keine
ärgerlichen Buchstaben. Solche Bücher sind wie die Frösche in Egypten / als
welche auch die Lager besudeln. O daß doch solche Bücher alle verbrandt wären /
wie dort die vorwitzigen Kunstbücher. Apost. Gesch. 19. Oder daß sie gar
gefressen wären / wie das Buch der Offenb. Joh.
Es
folgt noch eine praktische Handlungsanweisung: „das müst ihr thun :
verführerische Bücher helffen dämpfen und tilgen. Hingegen aber Christum das Buch
des Lebens pflantzen und fortbringen. Das ist ein Buch vor die / so gen Himmel
gedencken.“ Dann mündet die Predigt in ein gefühlvolles Schlussgedicht, das von
der brennenden Liebe zum Herrn Jesus spricht („Ich mag von nichts sonst wissen;
Als JEsum nur zu küssen . . .“)
In
allen Predigten des Bandes werden sinnbildhafte Gegenstände oder Verhältnisse
verwendet, um die rhetorische Hinführung zum Glauben anschaulich und wirklichkeitsgesättigt
zu machen. Die Themen werden im Vorspann zur Predigt genannt. Man findet dort
den „Wolff im Fuchsbalge“, die „Helle Fünsternüß“, den „einheimischen
Frembdling“, den „Wirth zu Gaste“, den „Schlaffenden Steuer-Mann“ und andere
interessante Themen-Vorgaben, die dem Prediger Gelegenheit geben, die
Alltagserfahrungen seiner Zuhörer zum Anlass für Lob und Tadel, für Seligpreisung
und Verdammung zu nehmen. Für den Gebrauch der Rhetorikschüler gibt es ein
Register der behandelten Gegenstände, das uns Heutigen, denen die Lektüre der
Predigten selbst kaum Erbauung sondern nur noch Erheiterndes bietet, leichten
Zugang zu interessanten Themen eröffnet und Einblick in die Befindlichkeiten,
Denk- und Verhaltensweisen einer verschollenen Zeit gewährt.
Ulrich
Goerdten