Sonntag, 1. September 2024

Li Yifang: Exlibris for Peace

Im Newsletter 407 von Klaus Rödel Li Yifang aufgefallen, das mich schon beim ersten Blick darauf sehr beeindruckt hat und das ich immer noch rätselhaft finde, so dass ich noch länger darüber nachdenken werde.
Bei der großen Affinität der Exlibrissammler und Exlibrissammlerinnen zu mythologischen Themen neigt man angesichts eines nackten Mannes und eines oder mehrerer Steine sofort dazu, über den Stein des Sisyphus oder über Atlas, den Titan, der das westliche Himmelsgewölbe stützen musste, nachzudenken – beide übrigens hatten ihre Aufgabe als Strafe von Zeus erhalten.
Nun bin ich aber sicher, dass es in anderen Kulturen andere Mythen gibt und dass dort andere Geschichten erzählt werden, die ich aber nicht kenne. Deswegen nähere ich mich dem Blatt von Li Yifang anders, gehe nur von dem aus, was zu sehen ist. Und was man sieht, ist eine Mauer, die die beiden Personen auf dem untersten Bildabschnitt von allem anderen trennt, wobei man nicht einmal weiß, was das andere ist. Sind es Menschen? Sind es Orte? Gibt es Kleidung dort? Brot? Liebe? Familie? Sicherheit? Geborgenheit? Oder gab es das dort einst? Und gab es das auf dieser Seite der Mauer, auf der der Mann und das Kind sich bewegen, auch?
Auf jeden Fall ist die Funktion einer Mauer tatsächlich die des Schutzes zwischen einem Dort und einem Hier, zwischen denen, die innerhalb der Mauern wohnen und denen, denen der Zutritt dorthin verwehrt werden soll. Man muss nur an die Stadtmauern, die früher Burgen und Schlösser und unsere Städte umgaben, denken. Heute werden sie von Touristen und Touristinnen besucht und bieten malerische Fotomotive. Das gilt auch für die Chinesische Mauer mit ihren über 21000 Kilometern Länge, die bereits während der Ming-Dynastie entstanden ist und der Grenzsicherung diente. 
Auch heute entstehen an sehr vielen Orten Mauern, architektonische Ambitionen gibt es dabei nicht mehr wie bei unseren mittelalterlichen Anlagen. Die Mauern sperren ein oder aus, werden meistens schnell errichtet, als Zaunanlagen oder Sperranlagen. Wir alle können viele Beispiele anführen, sei es die sog. Tortilla Wall zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, seien es die Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland oder der Grenzzaun nach Melilla u. v. a. m.
Ob es Kriege sind, die zu diesen Mauern geführt haben, ob es die Flucht vor Tod oder Hunger ist, das alles erfährt man nicht. Aber Li Yifang geht in seiner Beschreibung der existentiellen Not dessen, der nicht durch die Mauer gelangt, noch einen Schritt weiter. Die psychische Last, die auf demjenigen liegt, der die Mauer nicht überwindet, drückt ihm einen Stempel auf – nur so sind die unteren, nicht mehr geraden Mauerreihen zu erklären – und liegt so schwer auf seiner Seele, dass man ihn und das Kind daran zerbrechen sieht.

(Ulrike Ladnar, gesamter Beitrag hier)

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