Montag, 30. September 2024

Heinrich Vogeler für Kurt Freiherr von Reibnitz

Bei der Betrachtung dieses Exlibris aus dem Jahr 1912 kam mir das bekannte Wanderlied „Im Frühtau zu Berge …“ in den Sinn. Der Monat Oktober bietet uns oft noch alle Schönheiten der Natur und motiviert zum Wandern in den Bergen oder in den goldgefärbten Wäldern. Der Aufstieg frühmorgens auf eine Anhöhe ermöglicht bei klarer Herbstluft einen wunderbaren weiten Blick in die Ferne. Die Mühe lohnt sich und in uns bleibt ein erhebendes Gefühl, wenn Mensch und Landschaft fast eins werden. Solche bewegenden Naturbegegnungen kennen wir auch aus den romantischen Bildern von Caspar David Friedrich
Heinrich Vogeler: Exlibris für Kurt Freiherr von Reibnitz, 1912, Radierung
Sicher ließ sich der seelenverwandte Heinrich Vogeler von Caspar David Friedrich inspirieren, als er diese Radierung schuf. Im Entstehungsjahr dieser Grafik, im Jahr 1912, war die Zeit des Jugendstils, die Vogeler so berühmt gemacht hatte, vorbei und der Künstler suchte nach neuen Ausdrucks­formen.
In diesem Blatt fehlen florale Rahmen oder märchenhafte Szenen, wie wir sie vom Frühwerk Vogelers kennen. Das Exlibris ist stilistisch weit weg vom Jugendstil und realistisch gestaltet. Es zeigt uns in Rückenansicht einen Wanderer, der in alpiner Landschaft in einem Geröllfeld aufsteigt. Während einer Verschnaufpause stützt er seine linke Hand auf dem Knie und seine rechte in der Hüfte ab. Er genießt sichtlich den Ausblick und schaut in die aufgehende Sonne, die hinter einem steil aufragenden Bergmassiv am Horizont erstrahlt. Zwischen dem Wanderer und dem Berg in der Ferne liegen im Tal noch die Nebelschwaden des Morgens, so wie wir sie auch in dem Bild von Caspar David Friedrich sehen. Hoch oben am Himmel, vor einer dunklen Wolkenfront, gleitet ein einzelner Vogel. So frei wie dieser fühlt sich sicherlich auch der Wanderer. Auf einem Stein rechts im Vordergrund ist das Familienwappen des Freiherrn von Reibnitz, dem Eigner des Blattes, zu sehen. In der Komposition der Grafik greift Vogeler eine Symbolik auf, die in der aufkommenden Arbeiterbewegung der Zeit häufig genutzt wurde. Der Blick in Richtung Horizont, zur aufgehenden Sonne, symbolisiert die Hoffnung auf eine zukünftige, neue Gesellschaft.
Auch der Auftraggeber für dieses Blatt war als Adliger von sozialreformerischen Ideen geleitet. Er hieß mit vollem Namen Kurt Artur Gustav Hans Otto Freiherr von Reibnitz (1877–1937) und entstammte dem alten schlesischen Adelsgeschlecht von Reibnitz.

(Siegfried Bresler, gesamter Beitrag hier)

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