Sonntag, 3. September 2023

Julius Stindes Bibliothek

Julius Stinde an seinem Schreibtisch.
In: Velhagen & Klasings Monatshefte,
Jg. 12 (1897/98) I, S. 65.

Die privaten Bibliotheken von Schriftstellerinnen und Schriftstellern sind nicht nur Dokumentationen ihrer Vorlieben, Arbeitsschwerpunkte und Interessengebiete, sie sind nach deren Tode oftmals wichtige Quellen für Wissenschaftler, die sich mit Leben und Werk der Verstorbenen befassen. Sie überliefern, sofern sie erhalten sind, nicht nur ein Abbild des zu ihrer Zeit üblichen privaten Buchbestandes, die Bücher sind auch, falls es sich um eine echte Arbeitsbibliothek handelt, in der es Bearbeitungsspuren, Randbemerkungen und andere Einträge gibt, wichtige Quellen zum Verständnis der Arbeitsweise und des kreativen Umgangs, den die Betreffenden mit ihren Büchern pflegten. Einige Autorenbibliotheken sind in ihrer ursprünglichen Aufstellung in den Wohnhäusern der Schriftsteller erhalten, die zu musealen Gedenkstätten geworden sind, andere haben das Glück gehabt, dass sie von Bibliotheken oder Archiven komplett übernommen und damit für die Zukunft erhalten worden sind, andere sind von den Erben dem Antiquariatshandel übergeben worden, dann allerdings manchmal durch Auktionskataloge rekonstruierbar. Wieder andere sind aufgelöst, verteilt, verkauft und vergeben worden, ohne dass Nachrichten über ihren Bestand überliefert wurden.

Ein Glückslfall ist es, wenn eine Autorenbibliothek, die das Schicksal der Zerstreuung erleiden musste, vor ihrem Auseinanderfliegen noch einmal von einem Fachmann betrachtet und in ihren Hauptmerkmalen beschrieben wird. Dies ist 1905 geschehen, als Gotthilf Weisstein, der Journalist und Bibliophile, Gelegenheit erhielt, die Bibliothek des kurz zuvor verstorbenen Julius Stinde
im Antiquariat Gsellius in Berlin zu besichtigen. Er berichtet davon unter der Überschrift „Julius Stindes Bibliothek” in der Morgenausgabe der National-Zeitung vom 5. November. 

 
Nach Weissteins Angaben müsste ein großer Teil des Buchbestandes von der Berliner Stadtbibliothek angekauft worden sein. Forscht man aber den Titeln nach, so findet man keines der Bücher an diesem Ort. Das kann nur bedeuten, dass die Bücher aus Stindes Bibliothek dasselbe Schicksal erfuhren wie die Sprichwörterbibliothek von etwa 2000 Bänden, die der erwähnte Emil Jacobsen der Berliner Stadtbibliothek seinerzeit vermacht hatte: Sie sind im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und vernichtet worden. Erhalten geblieben ist in der Berliner Stadtbibliothek allerdings die Bibliothek Ernst von Wildenbruchs, mit dem Stinde befreundet war. Hier befindet sich ein Widmungsexemplar der Erstausgabe von Stindes „Buchholzens in Italien“, das einen Brief Stindes an Wildenbruch enthält.

(Ulrich Goerdten)

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