Sonntag, 30. Oktober 2022

Hans Ticha – Werkverzeichnisse

Die Büchergilde Gutenberg hat eine Vorzugsausgabe der Werkverzeichnisse von Hans Ticha, der zu DDR-Zeiten Mitglied der Pirckheimer-Gesellschaft war, herausgegeben.
Im Schuber erschienen zwei signierten Titel (Auflage: je 50 / eins mit zwei eingebundenen Originalholzschnitten) und zwei zusätzlichen Farb-Originalgrafiken in einem Mäppchen zum Preis von 160 Euro:
Werkverzeichnis der Grafik und Buchillustration 1969 – 2000,
Werkverzeichnis Malerei, Zeichnung, Grafik 2000 – 2012 (Nachtrag)

Anlässlich der Ausstellung 2015 VORZEICHNUNG UND ZEICHNUNG erschien im „Frankfurter Grafikbrief“ eine Beitrag von Wolfgang Grätz:

"Hans Ticha hat insgesamt 5 Bücher für die Büchergilde illustriert, Gedichte von Ernst Jandl und Joachim Ringelnatz, von Erich Kästner, Christian Morgenstern und Kurt Tucholsky. Er ist damit der wichtigste Illustrator der Büchergilde der letzten 20 Jahren. Aber hauptsächlich ist Ticha Maler und Zeichner…
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus: In der ersten Ausstellung, die ich im Mai 1993 mit Arbeiten von Hans Ticha in der Frankfurter Büchergilde Buchhandlung im damaligen BfG-Hochhaus, dem späteren Domizil der Europäischen Zentralbank, ausrichtete, befand sich ein wunderbares Aquarell, das in Rot und Blau ein tanzendes Paar zeigte. Das Blatt war schnell verkauft, und so war ich mehr als verblüfft, als Ticha ein Jahr später für die Olympische Sportbibliothek München eine großformatige Farb-Lithografie von 5 Steinen mit exakt diesem Motiv schuf. Wie konnte das sein, wo ihm die „Vorlage“ doch gar nicht mehr zur Verfügung stand?
Des Rätsels Lösung fand ich bald: Der Künstler, der wenig Aufhebens macht von der Akribie, mit der er seine Arbeiten durchkomponiert, entwickelt praktisch jedes Bild aus einer Fülle von Skizzen und Entwürfen, bis er zu der für ihn richtigen Bildlösung gelangt ist. So gibt es zu beinahe jeder Grafik, jedem Ölbild eine oder mehrere, teilweise perfekt ausgearbeitete Vorzeichnungen. Nichts ist zufällig in seinen Arbeiten. Die gefundene Bildlösung steht ihm nach diesem Arbeitsprozess zur Verfügung, und er vermag es, sie in jeder künstlerischen Technik umzusetzen, als Aquarell, als Lithografie oder auch, wie in diesem Fall ebenfalls geschehen, als großformatiges Ölbild. (Ihm selbst erscheint das so selbstverständlich, dass er es für nicht weiter erwähnenswert erachtet.)
Das gehört zum Selbstverständnis des Künstlers als Konstruktivisten, einer Richtung der modernen Malerei, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar vor allem in der Sowjetunion durch Künstler wie Malewitsch, Rodtschenko und El Lissitzky entwickelt, aber bereits durch Lenin diskreditiert und verboten wurde. In Tichas Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (1965 – 1970) galt der Konstruktivismus als übelste Sorte des verteufelten Formalismus: „Nicht mal um Realismus ging es, naturalistisch sollten wir arbeiten…“. Nun, dieses Plansoll wurde beim Absolventen Ticha gründlich verfehlt.
Der konstruierte hinter hermetisch geschlossenen Ateliertüren aus den Versatzstücken einer erstarrten Partei- und Staatssymbolik der DDR-Bilder, die durch geometrische Reduktion von dabei eingesetzten Körpergliedmaßen – beifallklatschenden Händen, gereckten Fäusten, aufgerissenen Parolen-Schreihälsen – das Serielle enthüllten, aus dem jede Emotion, alles wirklich Lebendige schon lange entwichen war. Sichtbar wurde die Leere der Hüllen eines einstmals kämpferischen Pathos (das aber wohl auch nicht gerade Tichas „Ding“ gewesen wäre…).
Wenn man ein Buch mit durchschnittlich nur 25 Illustrationen rechnet (zu Karel Capeks Der Krieg mit den Molchen schuf Ticha aber allein deren 168!), kommt man schnell auf mehr als 2000 Bildideen des Künstlers für Bücher schon bis 1990, es folgten bis heute annähernd 30 weitere Buchillustrationen, unter anderem zuletzt für die Büchergilde Gutenberg Christian Morgensterns Alle Galgenlieder. 
Tichas Zeichnungen sind ein wahres Fest von Farben und Formen, oft so plausibel, dass einen die Lösung geradezu anspringt, ein Feuerwerk an Bildideen und ungewöhnlichen Bildmetaphern, die auch durch die Reduktion auf geometrisch wirkende Formen dem Betrachter jede Freiheit lässt, mit dem Bild in einen der den eigenen Lebens-erfahrungen entsprechenden Dialog zu treten. Aufregende Qualität in dieser Breite und Vielfalt ist absolut selten.
Grob kann man sagen, der Kerl ist ein unverbesserlicher Nestbeschmutzer, eigensinnig, undankbar und systemübergreifend skeptisch.
Dabei denkt man das gar nicht, wenn man diesen feinsinnigen, ironisch blinzelnden, leisen Künstler persönlich trifft, wozu aber eben auch nicht so oft Gelegenheit ist.
"

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