Dienstag, 11. Oktober 2022

Berliner Handpresse

Es zeichnet die Berliner Handpresse aus, dass die Bücher nicht nur höchst aufwendig originalgrafisch illustriert und im Bleisatz gedruckt sind, sondern dass sie literarische Leckerbissen wie die schon 2006 erschienene Erstausgabe eines Textes der 2022er-Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar auf höchstem Niveau präsentierte.

Durch die recht hohen Auflagen – in der Regel 300 Exemplare – der von Wolfgang Jörg und Erich Schönig meist gemeinsam mit Orig.-Farblinolschnitten illustrierten Drucke sind diese bis heute relativ preiswert zu bekommen. Da bleibt die verdiente Wertschätzung für den irrsinnig großen Aufwand bei der Buchproduktion leider auf der Strecke. Dazu kommt, dass viele Bücher nicht so gut durch die Zeit gekommen sind, die mit Orig.-Farblinolschnitten bezogenen Einbände sind empfindlich, die Formate für das normale Regal zu groß, manchmal haben die in bis zu 8 Druckgängen aufgebrachten Farben durchgeschlagen. Wenn man jedoch das Glück hat, ein frisches Buch aus der Berliner Handpresse durchzublättern stellt sich oft so etwas wie Ehrfurcht ein! Trotz frecher, politisch nicht 100%ig korrekter Bilder und Texte.
1961 gründeten die beiden Kunststudenten Wolfgang Jörg (1934 - 2009) und Erich Schönig (1935 - 1989) in Berlin die „künstlerische Arbeitsgemeinschaft“ Berliner Handpresse. Das erste Buch, „An die Herrschaften im 5. Stock. Briefe von ***“ war mit zehn Originalholzschnitten versehen. Die vielen Holzplatten für die Druckstöcke waren im Verhältnis zum Buchpreis zu teuer, die Künstler stiegen auf den Linolschnitt um und blieben zeitlebens dabei. 1965 stieß die Brandenburgerin Ingrid Jörg zum Team und eröffnete dort die Abteilung „Originalgrafisches Kinderbuch“.

Wolfgang Jörg und Erich Schönig entwickelten in Zusammenarbeit mit Professor Dr. Walter Huder, dem Leiter des Archivs der Akademie der Künste in Westberlin, eine hohe Kultur literarischer Erstausgaben, vor allem unveröffentlichter Texte aus den Zwanzigerjahren, u.a. ein Romanfragment von Carl EinsteinLaurenz oder Schweißfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht“, was ihnen von Seiten der ZEIT die grantelnde Kritik einbrachte, ihre Originallinolschnitte machten den endlich zugänglichen Text unnötig teuer.
Werkdruck No. 1 1973, Abb. © W.Grätz
Alle Bücher der Presse wurden immer mit Original-Farblinolschnitten von beiden Künstlern ausgestattet, in jedem Buch also sind zwei Handschriften zu sehen, eine einmalige Kultur und Zusammenarbeit über 28 Jahre hinweg! Insgesamt 250 bibliophile Kostbarkeiten sind in der Berliner Handpresse erschienen, nicht alle waren originalgrafisch: Ab 1973 erschien die Reihe Werkdruck, meist skurrile Trouvaillen. Diese Bücher erschienen faksimiliert, aber zusätzlich mit Zeichnungen von Jörg und Schönig versehen, fest gebunden in Papier für Aktenordner, im Impressum signiert und nummeriert. Ab 1977 kam die Serie „Sartyren und Launen" dazu.

Als Schönig 1989 starb, holte das Ehepaar Jörg auch andere Künstler zum Illustrieren an Bord, inzwischen hat die Presse ihre Arbeit aber ganz eingestellt. Die mit 5- bis 6-farbigen Orig.-Linolschnitten illustrierten großformatigen Drucke, alle im Handsatz hergestellt und fest gebunden, spiegeln die ambitionierte und politisierte Buchkultur vor allem der 60er und 70er Jahre in Westberlin, wo es ja auch die Rixdorfer, Hugo Hoffmanns Atelier-Handpresse und andere gab – die prächtigsten Bücher aber erschienen in der Berliner Handpresse.

(Wolfgang Grätz, 245. Grafikbrief)

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