Vor mehr als 130 Jahren schon ist ein Buchobjekt hergestellt worden, das mit einem modernen Ausdruck als Hybridbuch bezeichnet werden könnte. Das „sprechende Bilderbuch“ ist ein als Buch verkleideter Holzkasten im Quartformat, der auf der Oberseite 10 Blätter mit Bildern und Texten enthält, in seinem Inneren jedoch Blasebälge und unter Luftzug tönende Metallzungen, die tierische und menschliche Stimmen nachahmen. Mit Hilfe von seitlich angebrachten Knöpfen, auf die mit Pfeilen von den Buchseiten aus hingewiesen wird, kann der Benutzer über Fäden die innen montierten Blasebälgchen in Aktion setzen und so die zum jeweiligen Bilde passenden Tier- oder Menschenlaute erzeugen. Der Buchhändler Theodor Brand in Sonneberg hat 1879 ein Patent auf dieses Buch beantragt und erhalten und hat es in etwa 20 Auflagen bis zum Ersten Weltkrieg hergestellt und vertrieben. Einige Exemplare sind in Bibliotheken und Sammlungen erhalten geblieben, eines wird zu einem guten Preis derzeit über ein Internetportal angeboten (Antiquariat Kiefer, Pforzheim). Ein Exemplar der 19. Auflage, das die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin besitzt (Signatur 53 BB 500584 R), diente als Vorlage für die hier wiedergegebenen Fotos. Das Buch muss sehr beliebt gewesen sein, denn es hat auch englische, französische und spanische Ausgaben gegeben. Der Künstler, der die Bilder geschaffen hat, wird nicht genannt, die Texte, meist Gedichte, stammen von Frida und Pauline Schanz, Paul Arndt, Elise Winckelmann und Johannes Trojan. Letzterer hat, ohne sich als Beteiligten zu nennen, in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1880 einen lobenden Aufsatz über dieses Buchobjekt in der „National-Zeitung“ veröffentlicht, der dem Objekt vermutlich zu einem „schlanken Absatz“ (wie man damals in Berlin bei hohen Verkauszahlen sagte,) verholfen hat. Trojan schreibt: " . . bei näherem Zusehen aber entdeckt man, daß den größeren Theil dieses Buches der Kasten bildet, in welchem die „Stimmen“ sich befinden. Diesem Kasten sind die acht auf starkes Papier gezogenen bunten Bilder des Buches angefügt. Aus der seitlichen Fläche des anscheinenden Goldschnitts ragen neun kleine Knöpfe heraus, die mit ebenso vielen Schnürchen in Verbindung stehen. Durch Anziehen dieser Letzteren mittelst der Knöpfchen werden die Stimmen hervorgerufen, von denen je eine zu je einem Bilde gehört: ausgenommen das letzte Bild, zu dem zwei Stimmen gehören. Die acht Bilder stellen den Hahn, den Esel, das Lamm, das Vogelnest, die Kuh, den Kuckuck, den Ziegenbock und endlich ein „Kinderpärchen am Ufer“ dar, im Augenblick, da es der in einer Gondel über den See herannahenden Eltern ansichtig wird. Diese beiden Kinder auf dem letzten Bilde gebieten über zwei Schnürchen, indem sie abwechselnd oder auch zugleich „Papa“ und „Mama“ rufen. Ich will es wohl glauben, was mir in Sonneberg versichert wurde, daß die Herstellung der Stimmen sehr viel Mühe und Sorge gekostet hat. Diese Mühe ist aber nicht unbelohnt geblieben, denn ohne Ausnahme sind die Stimmen wohlgelungen. Als besonders trefflich der Natur abgelauscht erschien mir die des Kuckucks, der Kuh und der kleinen Nestvögel. Aber auch „Papa“ und „Mama“ klingen nicht übel . . . “
Noch heute werden „sprechende Bilderbücher“ produziert und verkauft. Sie sind mit modernster Soundtechnik ausgestattet und liefern weitaus mehr als das schlichte „Muh“ und „Mäh“ des alten Urproduktes aus Sonneberg.
(Ulrich Goerdten)
(Ulrich Goerdten)
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