Sonntag, 7. Juli 2013

Paul Raabe (21.02.1927 - 05.07.2013)

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe
Foto © Uwe Frauendorf
Im Alter von 86 Jahren starb am 5. Juli in Wolfenbüttel der wohl bekannteste Bibliothekar Deutschlands. Jahrzehntelang hat er in führenden Positionen seinem Berufsstand alle Ehre gemacht und dabei verstanden, Impulse mitten in die Gesellschaft hineinzugeben. Als Sohn eines Holzbildhauers am 21. Februar 1927 in Oldenburg geboren, absolvierte er die Ausbildung zum Diplom-Bibliothekar an der Landesbibliothek seiner Heimatstadt, um anschließend in Hamburg Germanistik und Geschichte zu studieren. In Marbach übernahm er 1958 die Leitung der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs und trat in dieser Zeit mit ersten, deutschlandweit wahrgenommenen Ausstellungen an die Öffentlichkeit, am bekanntesten war die über den literarischen Expressionismus, mit einem bis heute viel zitierten Katalog (Expressionismus, 1960). Zwei damals begonnene umfangreiche Bibliographien, Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus (1964) und Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus (1985), zeugen von Raabes großem Sammlerfleiß und von seiner Fähigkeit, Großprojekte durchzustehen. 1968 ging er als Direktor an die Herzog August Bibliothek nach Wolfenbüttel, die sich unter seiner Leitung zu einer europäischen Studien- und Forschungsstätte für das Mittelalter und die frühe Neuzeit entwickelte. Innerhalb der dezentralen deutschen Nationalbibliothek übernahm Wolfenbüttel die Sammlung von deutschen Drucken des 17. Jahrhunderts. Zahlreiche Bauvorhaben wurden von ihm verwirklicht, ein viel genutztes Stipendienprogramm ins Leben gerufen. Ausstellungen und wissenschaftliche Tagungen fanden statt, Publikationen entstanden in nicht abreißender Folge.
Als Raabe sein Ruhestandsalter erreichte, kamen mit der deutschen Einheit neue große Aufgaben auf ihn zu, die seine früheren Leistungen noch übertrafen. In Halle (Saale) ließ er sich von 1992 bis 2000 als Gründungsdirektor der neubelebten Franckeschen Stiftungen in die Pflicht nehmen. Der gesamte Gebäudekomplex mußte saniert werden, alle Einrichtungen des Hauses waren neu zu konstituieren, die berühmte Barockbibliothek war wieder aufzubauen. Im Rahmen des Jahrestreffens 2011 in Halle konnten die Pirckheimer die gelungene Sanierung bestaunen. Selbst mit dem hallischen Engagement endete seine berufliche Tätigkeit nicht, ein letztes großes Projekt war die von ihm initiierte Bestandsaufnahme national bedeutsamer Kultureinrichtungen in den neuen Bundesländern. Diese in dem „Blaubuch“ der Bundesregierung Kulturelle Leuchttürme (2001; 3. Aufl. 2006) erfaßten kulturellen Institutionen erhalten seither eine besondere Förderung durch Bund und Länder.
Raabes Stimme wurde auch in vielen anderen Gremien und Kuratorien gehört, in denen er Mitglied war, so im Stiftungsrat der Klassik Stiftung Weimar und in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo er Berater und Förderer von solchen buchkundlichen Großprojekten wie der Fortsetzung des Literaturlexikons „Goedeke“ war. Raabes Einsatz wurde weithin anerkannt, beruhte er doch neben der unbestrittenen Kompetenz unverkennbar auf Uneigennützigkeit; in Halle soll er ohne Gehalt gearbeitet haben. Würdigungen, Preise und Ehrentitel gingen seit den achtziger Jahren in dichter Folge auf ihn nieder, am bedeutsamsten sind darunter wohl die Ehrenbürgertitel von Wolfenbüttel und Halle.
Trotz der Belastungen durch diese vielen Manageraufgaben wußte Raabe sich immer Freiraum zu halten für eine rege eigene Publikationstätigkeit. Alle Themen, die er anfaßte, behandelte er gründlich, auf Quellenstudium basierend. Ein viel benutztes, häufig nachaufgelegtes Buch von Raabe war bezeichnenderweise die Einführung in die Bücherkunde zur deutschen Literaturwissenschaft (1961), in der er das Handwerkszeug für die literaturwissenschaftliche Forschung didaktisch ausbreitete. Hervorgehoben aus der Fülle seiner Arbeiten seien die schon während des Studiums entstandene Monographie Alfred Kubin. Leben, Werk, Wirkung (1957), das Bekenntnisbuch Die Bibliothek als humane Anstalt betrachtet. Plädoyer für die Zukunft der Buchkultur (1986) und die Erinnerungsbände Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland. Jahre in Wolfenbüttel (1992), In Franckes Fußstapfen. Aufbaujahre in Halle an der Saale (2002), Mein expressionistisches Jahrzehnt (2004) und Frühe Bücherjahre (2007).
(Carsten Wurm)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen