Montag, 14. Januar 2013

Wilfried M. Bonsack (7.3.1951 - 15.12.2012)

Foto: © Hinrich Peters
Ich lernte Wilfried 1990 kennen, nachdem die Mauer fiel und er bei der Neuen Gesellschaft für Literatur auftauchte. Auf eigener Faust stellte er eine Anthologie zusammen mit Berliner Autoren aus Ost und West; der Titel war absichtlich so gedruckt, sagte er, daß man ihn als „Zug in der Luft“ aber auch als „Luftzug“ lesen konnte. Ein frischer Wind kann sich anfühlen, wie an die Luft gesetzt zu werden. Wie voll war Wilfrieds Wohnung bei der Premiere dieser Anthologie! Wie viele Autoren lasen ihre Texte daraus, 30? Wie schwer fiel es ihnen, angesichts ihrer Zahl sich jeweils kurz zu fassen.
Ich erinnere mich an den Band von Celan-Gedichten, „Atem“ der Titel, den Wilfried – wieder auf eigene Faust – schon zu DDR-Zeiten zusammengestellt hatte. Celan war nicht gerade ein von der Staatsmacht gern gesehener Autor. Ob Wilfried damit seine Arbeitsstelle beim offiziellen Verlag riskiert hat, weiß ich nicht.

Der Büchernarr gründete seinen Bonsai-TypArt Verlag und machte bibliophile Bücher in kleiner Auflage. Enge Kollaboration zwischen Autor und Verleger -- das klassische literarische Leben, wie es im Buche steht, aber heutzutage selten anderswo. Im Westen war die Problemkonstellation eine andere, nämlich die Frage von Finanzierung, von davon-nicht-leben-können und zu guter Letzt von steuerlicher Erlaubnis. Wilfried sagte mir vor ein paar Jahre, das Finanzamt habe Beamten geschickt, um seine „Druckmaschinen“ zu konfiszieren. Er hatte aber keine, nur einen Computer-Drucker. So machte man seinen Verlag kaputt, weil er kein „Geschäft“ betreiben durfte, ohne Steuer zu zahlen. Aber hat der Verlag je mehr abgeworfen, als er verschluckte? Wilfried war eben kein Geschäftsmann, sondern leidenschaftlicher Literat.

Wilfrieds Wohnung war, wie eine Bekannte vor etwa zehn Tage es formulierte, ein Gesamtkunstwerk. Wer Bücher liebt war geliefert. Manch ein Band lockte, weil er ein Exemplar Buchkunst war; manch einer mit seinem Thema. Dazu die großartige originale Kunst, einschließlich 2 Porträts von Wilfried, an den Wänden, in Petersburger Hängung, d.h. mit kaum einem Fingerbreit zwischen den Bilderrahmen. Jedenfalls an den Wänden, die nicht schon von Bücherregalen besetzt waren.

Und trotzdem sah man von den Bildern und den Büchern weg bei dem Jour Fixe. Jahrzehnte lang, in DDR-Zeiten und nach der Wiedervereinigung meist monatlich und auch noch bis zuletzt mehrmals im Jahr ein höchst stimulierender Vortrag, jeweils von jemandem, der sein Thema wirklich beherrschte, weil es ihm Herzenssache war. Und was für eine Bandbreite an Themen! Stimulierend war auch immer die anschließende Diskussion. Eigentlich konnte man sich über die Jahre das Äquivalent einer Uni-Ausbildung in Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaft und Geschichte aneignen, alleine beim Jour Fixe. Dabei bewegte sich die Diskussion viel weiter und freier als an einer Uni, weil niemand um eine Note bangte. Und jede Sitzung war wie eine Fete – man sprach mit Freunden und Bekannten und lernte neue Leute und ihre Ideen kennen. Ich persönlich weiß nicht, was in dieser Stadt diesen Jour Fixe ersetzen könnte.

Und Wilfried selber war stimulierend, im Gespräch über alle möglichen Themen, denn er liebte es, auf neue Gedanken zu kommen und alte neu zu kombinieren. Ob es um Geschichte, Philosophie, vergleichende Religion, fremde Kulturen, Kunst, Literatur, Büchermachen oder Typographie ging. Ideenreichtum – aber mit Humor und Witz, ohne intellektuelle Arroganz. Wilfried wollte immer SPASS mit Ideen haben, und er war an den Ideen anderer interessiert. Er war kritisch, und wenn er meinte, jemand verhalte sich unethisch oder schäbig, könnte er mit dem hart ins Gericht gehen. Aber er hatte Mitgefühl, das nicht erst „eingeschaltet“ werden musste und von dem es ihm nie einfiel, es abzustellen. Nie sollte irgendjemand gekränkt oder verletzt werden. Er hatte nicht nur einen offenen Geist, sondern auch ein offenes Herz. Wenn man bei ihm unten an der Haustür klingelte, musste man nicht noch einmal an der Wohnungstür klingeln, auch nicht wenn die Bude voll war. Wilfried stand schon mit einem freudigen Lächeln in der offenen Tür.

Wir werden ihn vermissen.

(Mitch Cohen)

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